Wie Bücherseiten

Wie Bücherseiten sind unsere Tage, schnell blätternd.

Schwarz bedruckt, auf weißem Papier.

Wort und Satz in Frage und Ausrufezeichen gesetzt.

Und im Übermaß des Lebens, wo uns alles noch gelingt,

merken wir nicht, wie an uns die Zeit verrinnt.

 

Wie Bücherseiten sind unsere Tage, schnell blätternd.

Erschrocken merken wir, wie uns die Kraft zu schwinden beginnt.

Wir ahnen nicht, wie Macht und Angst uns bezwingen.

Manchmal bleiben beim schnellen Blättern einige Seiten zusammen.

Sie wollen sich einfach nicht lösen.

Was für Worte mögen sich dahinter verstecken?

 

Wie Bücherseiten sind unsere Tage, schnell blätternd.

Festgebunden, haltend, starr ummantelt, nicht biegsam.

Seiten, die Erinnerungen und Geheimnisse tragen.

Worte, die uns vielleicht darauf hinweisen, es zu wagen,

an diesen Tagen so zu leben, dass wir wieder Freude haben.

 

Wie Bücherseiten sind unsere Tage, schnell blätternd.

Alles schwarz Gedruckte, verschwimmend vor meinen Augen.

Wie unschön ist es, dass uns die Schnelligkeit und Hast auf Erden,

die Blicke nimmt auf das noch Verborgene in unserem Leben.

 

Gern möchte ich jene Seiten ganz in Ruhe blättern können,

um nach nur der einen zu suchen, nach dieser

unbeschriebenen, ohne Wort und Satz, ohne Druck.

Welche diese beim Betrachten mir erlaubt,

im Einklang mit mir selbst zu sein.

Dann genieße ich die Tage wie Bücherseiten.

Nicht schnell blätternd.

 

 

Brigitte Zehmisch

Januar 2017